Auch heute kann und will ich mich an die gesellschaftlich und politisch normierten Zeitabläufe noch nicht so recht gewöhnen. Verschärft hat sich das aber gewiss noch einmal, seitdem meine Tochter ganz ähnliche Tendenzen zeigt wie ich: nämlich am Abend hellwach, voller Unternehmungslust und produktiv zu sein und folgerichtig am Morgen einfach etwas länger als der Durchschnitt zu brauchen. Offenbar liegen solche Tendenzen auch in den Genen; wir wären jedenfalls der leibhaftige Beweis dafür.
Und so ergreift mich jedes Mal ein hohes Maß an Mitgefühl, wenn wir schon kurz nach dem Aufstehen zur Bim und durch die Straßen hetzen, um am Ende dann doch immer viel zu spät – und unter mehr oder weniger verständnisvollen Blicken – in das bereits angebrochene Kindergartenprogramm zu platzen. Dass sich mein täglicher Arbeitsbeginn (oder der meiner Frau) dadurch eklatant nach hinten verschiebt, liegt unangenehmerweise in der Natur der Sache. „Und wie macht ihr das dann, wenn die Schule beginnt?“, werden wir regelmäßig und mit leichtem Vorwurf in der Stimme gefragt. Um ganz ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht.
Im Wissen darum, dass solche schier ewig etablierten Zeitstrukturen im Grunde kaum oder nur mühevoll verändert werden können, möchte ich aber dennoch nicht müde werden, um für größere Sensibilität, Solidarität und Flexibilität zu plädieren. Denn zum einen sperre ich mich innerlich dagegen, dass die durch Kernarbeitszeiten, Kindergartenzeiten, Schulzeiten, Öffnungszeiten etc. starr getaktete „Normzeit“ den Tagesrhythmus von immerhin einem Drittel der Bevölkerung – so viele sind laut einer Münchner Studie nämlich sogenannte Nachteulen – völlig ausblendet und dieses Drittel dadurch diskriminiert.
Zum anderen wehre ich mich gegen die zumindest in Österreich noch immer wahrnehmbare Abwertung der Nacht und all ihrer Anhänger:innen. Immer noch gelten Langschläfer:innen als faul oder als undiszipliniert. Nur die Morgenstund‘ habe eben Gold im Mund, während Nachteulen den Nachtschwärmer:innen gleichgesetzt werden und die Nacht mit einer Aura des Anrüchigen versehen wird. Und tatsächlich bleiben Familien, betagte Menschen, Eltern wie auch Kinder vom sozialen Leben des späten Abends und der Nacht weitgehend ausgeschlossen, ja werden spielende Kinder im Dämmerdunkel samt ihren „verantwortungslosen“ Eltern mit anklagenden Blicken bedacht. Der Gedanke an südeuropäische Straßen und Plätze, wo sich um diese Uhrzeit die ganze Gesellschaft zum heiteren Austausch zusammenfindet, lässt mich vor Neid erblassen.
Ein (zugegeben nicht einwandfreier) Gedanke, der mich dennoch Hoffnung schöpfen lässt: Sollte es in Österreich aufgrund der prognostizierten klimatischen Veränderungen in den kommenden Jahrzehnten tatsächlich so heiß werden wie heute in Süditalien, hoffe ich, auch hierzulande auf eine größere Liebe zu Abend und Nacht und – damit verbunden – auf ein größeres Verständnis für flexiblere Zeitstrukturen (Siesta etc.) stoßen zu dürfen. Es wäre nur schön, wenn es dafür keine Klimakatastrophe bräuchte…

