Mein Mann und ich haben die Volksschule bzw. die Wohnung bewusst nach dem Schulwegkriterium ausgesucht. Aus Faulheit, organisatorischer Notwendigkeit – Kleinfamilie, ohne Großeltern an der Hand, und Überzeugung. Der Ältere ist bereits in seinen ersten Herbstferien alleine losgezogen. Eigentlich ist er der Introvertierte, der oft den jüngeren Bruder vorausschickt, um Dinge zu erfragen. Im Straßenraum navigierte er sich selbstbewusst, umsichtig, ohne offensichtliche Sorge und mit erstaunlichem Orientierungssinn. Sogar über den Gürtel - das war nicht ganz so geplant - aber jedenfalls ohne Smartwatch. Aus diesem Schatten ist der Jüngere gestern herausgetreten.
Apropos Schulweg: Ich denke manchmal an ein klima:aktiv Projekt zurück: Volksschüler haben ihre Schulwege gezeichnet. Die Zeichnungen der Kinder haben sich massiv unterschieden zwischen Kindern, die angeschnallt im Autositz den Rücksitz der Eltern vor sich haben und Kindern, die zu Fuß, am Roller oder auf dem Rad (mit oder ohne Begleitperson) unterwegs sind. Manchmal hole ich meine Kinder ab und bemerke auf dem Rückweg, wie aufmerksam sie die Welt wahrnehmen – freundliche Nachbar:innen, bellende Hunde, Wurzeln, die den Gehsteig anheben. „Amazingness“ nannte es eine befreundete Fotografin aus London – der Blick auf das scheinbar Unsichtbare um uns herum, dass wunderbar und besonders ist, Freude schenkt und ein „Common“, sprich für uns Alle und konsumfrei, ist.
Stellt sich die Frage, warum nicht alle Eltern ihren Kindern den eigenständigen Schulweg ermöglichen? Wohnortlage, Schulwahl oder Sorge und Angst? Vor knapp drei Monaten hat ein 21jähriger Mensch bei einem Amoklauf an einer Grazer Schule zehn Menschen getötet. Präsent ist mir noch das Gefühl der Angst von Schüler:innen, welches über die Medien sichtbar wurde. Die Politik hat mit einer Verschärfung des Waffengesetzes reagiert. Gut! Maßnahmen, wie Türknaufe, die von innen Klassenzimmer verschließen, sind im Schulbau gar nicht neu, sondern schon seit Jahren Anforderung.
In Gesprächen mit anderen Müttern verbalisieren einige ein großes Unbehagen, dass sie ihre Kinder in der Schule wissen – ja richtiggehend Angst hätten sie. In einer whatsapp-Gruppe überlegt eine Mutter laut, ob sie ihr Kind überhaupt noch in die Schule schicken solle, bis eine Information über Sicherheitsvorkehrungen und eventuell eine Übung im Notfall von der Schule durchgeführt wurde. Von derartigen Schulungen sei unbedingt abzuraten, erklärt die Direktorin nüchtern. Das Kind kommt weiterhin in die Schule.
Bin ich eine Rabenmutter, dass ich diese Ängste nicht empfinde. Vielleicht hat es auch mit einem „Butterseiten“-Aufwachsen zu tun – ohne für mich ersichtliche Bedrohungen und Unsicherheitslagen im nahen oder weiteren Umfeld. Ich möchte keine Rabenmutter sein – verlockend fast, mit einzustimmen in die Sorgen. Steigern wir uns als Gesellschaft wo hinein und verändern damit von innen heraus unser subjektives (Un)Sicherheitsempfinden?
Der Ruf nach Sicherheitsvorkehrungen für einen Ernstfall wird nicht nur im Bereich Schulen immer lauter. Er droht uns Freiheiten zu nehmen, die wir doch als besondere Qualität eines Lebens in Mitteleuropa anführen. Nehmen wir von Ängsten getrieben unseren Kindern die Freiheit sich zu eigenständigen und vertrauensvollen Menschen zu entwickeln? Ohne Vertrauen in all unsere Mitmenschen wird es sich nicht ausgehen und Europa wird nicht der Ort sein, an dem ich meine Kinder großziehen möchte. Und wenn nicht hier – wo dann?
Lassen wir unsere Kinder kleine Schritt gehen. Der Schulweg zur nächstgelegenen Volksschule kann einer davon sein!